Erneuerin des Klassischen

„JAMINI: An international arts quarterly“: Vol. 2, No. 6, November 2004
Die Bildhauerin Bärbel Dieckmann: Erneuerin des Klassischen (Classical innovator)

Etymologisch kommt das Wort „Skulptur“ von „Kratzen“ und „Schnitzen“ (carve), das Wort „Plastik“ von „Formen“, „Gestalten“. Nimmt man das Wort Schnitzen, gibt es zwei Aspekte: etwas aus einem Material heraus schneiden und in eine Figur oder Form hinein schneiden. In einem Schaffensakt wird Material bearbeitete, ist wird damit gerungen, um ein dreidimensionales Kunstwerk entstehen zu lassen. John Donne schrieb in seinem Gedicht, ‘A Valediction: Of Weeping,’ von Teilen, die zusammengefügt einen Globus ergeben: das, was vorher Nichts war, wird zur Welt, wird zu Allem. In einer Skulptur ist etwas „um-gestaltet“ (trans-formed) in eine andere Form, in Schönheit und Bedeutung. Der fast instinktive und unmittelbare Appell, den eine Skulptur für uns hat, kann auf die Freude zurückgeführt werden, die wir durch Sehen und Berühren erfahren, und zwar insbesondere durch Berühren, Fühlen und Streicheln : so haben auch Blinde Freude daran, eine Figur zu ertasten.

Bärbel Dieckmann, 1961 in Bielefeld geboren, ist eine expressionistisch-realistische Bildhauerin. Auf einem Humanistischen Gymnasium kam sie schon frühzeitig in Kontakt mit klassischer Literatur und ihren Gestalten. Ihre Geschichten und Themen sind von bleibendem Interesse für sie und haben ihre Arbeit stark beeinflusst. Die griechischen und römischen Götter und Göttinnen sind in ihren Tugenden und Untugenden sehr menschlich: in dem Mythischen sieht Dieckmann nicht das Ferne und Fremde, sondern das Unmittelbare und Menschliche. Nach Schulabschluss studierte Bärbel Dieckmann an einer Fachschule und unterrichtete später an einer Meisterschule** für Steinbildhauer. Sie hat in Europa und in Amerika vielfach ausgestellt und zahlreiche Preise gewonnen. Anerkannt als eine der begabtesten zeitgenössischen Künstlerinnen lebt sie in Berlin und arbeitet ausschließlich als Bildhauerin. In Anbetracht des begrenzten Raumes will ich mich darauf beschränken, einige Elemente ihrer Arbeit vorzustellen und die Aufmerksamkeit auf diese zu lenken. Die Fotos, ausgenommen „die Griechin“ stammen alle von Madeleine M. Coffaro, ebenfalls Berlin. Unweigerlich geht etwas verloren im „Übersetzungsvorgang“ von einer soliden, dreidimensionalen Skulptur in eine zweidimensionale Fotographie, aber Madeleine Coffaro hat diesen Verlust auf ein Minimum gebracht und mit Verständnis und Empfindsamkeit diese Transformation erreicht. Ich bin beiden, der Bildhauerin und der Fotografin, für ihr Entgegenkommen und die Zusammenarbeit dankbar.

Viel von dem, was sich als moderne Kunst ausgibt ist affektiert und kompliziert; Unverständlichkeit wird fälschlich für tiefe Komplexität gehalten. Bärbel Dieckmann hat den der Überzeugung entsprungene Mut und das Selbstvertrauen einen einsamen Weg zurück zur Klassik zu gehen und zu Werken wie der Bibel und mit ihr verbundenen Geschichten. Dies jedoch nicht als schlichtes Zurückkehren, sondern ein Versuch dem Vergangenen eine Beziehung zur heutigen Zeit zu geben und eine Bedeutung: nämlich, sich der Vergangenheit für die Vorstellungen der Gegenwart zu bedienen und sie dadurch lebendig zu erhalten. Es ist ein Zurückgehen, um ein Licht auf das Zeitgenössische zu werfen. Doch ist ihre Arbeit weit davon entfernt ausschließlich von der Klassik oder aus der religiösen Tradition zu kommen: ihre Themen sind ebenso die „gewöhnlichen“ Männer und Frauen und sie zeigen das Außerordentlich in dem anscheinenden Gemeinplatz und Alltäglichen. Wieder und wieder feiert sie die „Lebendigkeit“ der menschlichen Figur. Auf diese Art vermeidet sie, was zeitgenössische Mode mit ihrem Verständnis von „the body beautifult“ ist und auch das Schwere, Ungelenke wird von ihr dargestellt. Bedeutung ist oft im Einfachen gesucht, zum Beispiel in der Schönheit eines Gesichtes, in einem Moment oder in einer Stimmung. Bärbel Dieckmann arbeitet in Gips, Terrakotta, Bronze, Stein und Zement. Wiederum, der Mode entgegengesetzt sind die von ihr bevorzugten Mittel Bronze und Stein. Sie habe eine Idee, sagt die Künstlerin, ein Thema, eine Inspiration. Ihr nächster Schritt ist, sich für ein Material zu entscheiden, danach wird ein Gerüst gefertigt und dann das Formen der eigentlichen Figur. Sie arbeitet von dieser Form nach außen, unter Vermeidung der Gefahr, dass sich Einzelheiten verselbständigen und für sich ein Leben und eine Richtung entwickeln. Oft sind ihre Figuren, getreu dem Leben und der Wahrheit, asymmetrisch, uneben, rau und gebrochen.

Kunstkritiker haben Dieckmanns Vorliebe für das Konvexedem Konkaven gegenüber bemerkt, und wenn auch auf aufgrund des ersten das zweite unvermeidbar folgt, so ist der Gesamteindruck doch überwiegend einer von Volumen. Die obige weibliche Figur, füllig und in sich ruhend, ist so lebendig in ihrer Gedankenverlorenheit — eine vorübergehende Stimmung „verewigt“ in einer Skulptur — , der Betrachter möchte fast protestieren, dass die Bildhauerin sie mit ihrem scharfen Instrument „behelligt „. Wie Dieckmann sich äußerte, lebt die Skulptur nicht nur von dem Umriss und dem Äußeren, sondern von dem was vom Inneren ausstrahlt: eine ihrer Ausstellungen hatte den passenden Titel: „Der innere Raum“.**

Da ich von der Klassik sprach, will ich mich jetzt einer Figur zuwenden, die in ihrer Arbeit wiederholt erscheint: der Minotaurus. Der moderne Fokus ist nicht auf Prinz Hamlet gerichtet, sondern auf Rosencrantz and Guildenstern (siehe: Tom Stoppard’s Schauspiel: Rosencrantz und Guildenstern are Dead), konzentriert sich nicht auf Jane Eyre (der Titelheldin), schön und konventioneller Moral folgenden, sondern auf die wahnsinnige Frau, das sich zur Furie wandelnde Opfer, eingesperrt und auf dem Dachboden tobend: siehe Jean Rhys Roman, Wide Sargossa Sea. Ähnlich wendet sich Bärbel Dieckmann nicht dem glorreichen und heldenhaften Jason, sondern dem Ungeheuer (monster) zu, das Jason überkommen muss und im Labyrinth töten, auf dass er das Goldene Vlies forttragen kann.

Wenn wir dieses Werk von unten nach oben betrachten, dann sehen wir einen perfekt geformten, muskulösen, männlichen Körper, der plötzlich nicht nur in einem Stierkopf endet, sondern einem Kopf der skelettartigen ist: ein memento mori. Es gibt wenige Menschen, die ganz aus einem Guss sind und es ist das Nebeneinander von Widersprüchen in der Persönlichkeit, das uns so komplex macht. So ist auch der Minotaurus ein Tier und gleichzeitig ein Mann, gleichzeitig mächtig und kläglich. Er ist nicht nur irgendeine mythologische Figur, überliefert Hunderte von Jahren, sondern eine Metapher menschlicher Umstände, eingeschlossen, wie wir sind in dem „Labyrinth“ des Lebens. Mary Shelley beschreibt in ihrem Roman ein vom Menschen geschaffenes Ungeheuer, das sich verständlicherweise seinem Schöpfer Frankenstein zu nähern versucht, aber auf Abscheu trifft. Das Geschöpf wendet sich dann Verständnis und Freundschaft suchend, an andere menschliche Wesen, begegnet aber Entsetzten, Angst und körperliche Bedrohung. Es ist dieses Verstoßen, das aus dem Ungeheuer ein Ungeheuer werden lässt: das zerstörerische Ungeheuer, zu dem das Geschöpf wird, ist das Resultat von menschlichen Vorurteil, von Verstoßung und Gewalt. Bärbel Dieckmanns Minotaurus ist ähnlich und steht als die Quintesense des Außenseiters da, einsam, missverstanden, mutig und entschlossen, von nackter Stärke und herausfordernd in seiner Einsamkeit – hässlich und großartig.

In Zusammenhang mit dem Minotaurus steht Dieckmanns Cycloptaurus, eine Wortprägung aus „rundes Auge“ und „Taurus“ oder „Bulle“. Das Geschöpf ist urzeitig und zerzaust, stark, trotzend und drohend. Und dennoch wirkt er wie ein verlorenes und orientierungsloses Wesen, ein Eindruck der durch sein augenloses Gesicht entsteht, durch die leeren Augenhöhlen, mit denen er intensiv aber vergeblich starrt, empfindend aber nicht sehend, und ohne zu sehen, unfähig zu verstehen. Weit entfernt davon ein Ungeheuer, ein zu fürchtendes Etwas, zu sein, ist es das Geschöpf selbst, das hilflos und verletzlich ist. Diese Art von Gegensatz (hier: Schrecken und Mitleiderweckendes, Stärke und Verletzlichkeit), ergeben die Spannung, die für Dieckmanns Arbeit typisch ist. Im Grunde ist die Aggression des Cycloptaurus ein Versuch der Verteidigung und wie beim Minotaurus ein Ausdruck eines der ursprünglichsten Instinkte, der des Überlebens. Die Aura des Schreckens die den Cyloptaurus umgibt, geht nicht so sehr von ihm aus — armseliges, blindes Geschöpf — eher ist es ihm auferlegt durch unser „Schauen“ (im Sinne Lacans), durch unseren eigenen Mangel an Verständnis und Mitgefühl, durch unsere Mutmaßung, unser Vorurteil und der Angst vor dem Fremden, dem Anderen. Wir sind es, die wir unsere Ungeheuer schaffen in Sciencefiction, Fantasien für Kinder und oft im wirklichen Leben.

Christus

 

Man kann sagen, dass die Religion und die Liebe die beiden größten inspirierenden Impulse westlicher Kunst, ob in der Skulptur, der Musik, Malerei oder Poesie waren. Über Jahrhunderte ist die Darstellung und Interpretation der Kreuzigung von zahlreichen Künstlern versucht worden. Aber Dieckmanns Re-Präsentation unterscheidet sich auf wunderbare und originale Weise. Ihr Kreuz ist nicht das traditionelle, sondern ein einfaches großes T. Während die meisten Darstellungen des gekreuzigten Christus ihn seiner Bewegung beraubt zeigen, hat sich hier eine Hand befreit und hängt nicht leblos, sondern sie reicht zu uns heraus. Und wenn Gott, dem Christentum entsprechend, eines Menschen Gestalt annahm, dann ist das, was wir sehen, ein menschliches Wesen und doch Gott (wiederum das Paradoxe): Gott als Mensch. Die Christliche Tradition sagt, dass Gott den Menschen als sein Ebenbild schuf. Dann muss es umgekehrt auch wahr sein, das Gott das Ebenbild des Menschen ist: dieser Gedanke ist auch vorhanden in dem folgenden Zeilen, die auf diese Skulptur geschrieben wurden:

Der Körper vornüber geneigt
zeigt noch immer übergroße Stärke,
und seine Hand vom Kreuz gelöst,
sie segnet noch im Fall.
Christ als der Menschheit Widerhall
Wir stehn im Tal und blicken auf
und fühlen das Geschenk der Kraft,
Gott schafft uns neu im Tod.

(Liebetraut Sarvan)

Es ist ein Leiden, wie wir Menschen leiden, Leiden wie wir menschlichen Wesen es kennen in seinen unterschiedlichen Erscheinungsweisen und Stärken. (Das Leiden Christi war ein extremes Beispiel. Tatsächlich so hart, dass die muslimische Überlieferung festhält, Gott, barmherzig und nicht gewillt, seinen Propheten so grausam behandelt zu sehen, habe die Seele fortgenommen und die Römer nur im Glauben gelassen habe, sie folterten, kreuzigten und töteten.) Es mögen sich vielleicht einige Personen dasselbe Bild, Gemälde oder dieselbe Skulptur ansehen, aber sie werden nicht Dasselbe „sehen“, nicht gleich interpretieren und auf identische Weise reagieren. So betrachtet würden sie nicht dasselbe Objekt sehen. Wie Susan Sontag in Regarding the Pain of Others feststellt, unabhängig von der Absicht des Künstlers, der Künstlerin, die Reaktion des Betrachters auf seine oder ihre Darstellung, kann nicht vorausgesagt werden und wird in jedem Falle unterschiedlich sein. Große Kunst ist vielschichtig und vieldeutig: eine weitere mögliche Interpretation dieser Skulptur ist, dass ebenso wie die Menschheit Gott braucht, braucht Gott in seiner großen Liebe die Menschheit. Der Arm, der sich vom Kreuz freigemacht hat, öffnet sich in einem versuchten Umfassen, so dass der Kreis, die in sich geschlossenste aller Formen, vollendet ist. Bärbel Dieckmann, owohl sie kühn und herausfordernd ist, setzt sich nicht zum Ziel zu schockieren oder skandalisieren: die Figuren, die sie darstellt, die Bedeutung, die sie nahelegen, die Interpretationen, die sie herausfordern, führen nie zu einem Respektsverlust für das Leben. Audens Gedicht: ‘Musee des Beaux Arts’ ist eine Meditation über das Leiden. Natürlich ist unser eigenes Leiden „unmittelbar“ für uns und besorgniserregend, aber auch wenn ein Leiden von größerer, fast universaler Bedeutung vorkommt, ist es umgeben von Unbedeutendem: jemand isst, andere gehen dumpf umher, Kinder spielen, die Hunde leben weiter ihr „Hundeleben“ („their doggy life“), und das Pferd kratz sich sein unschuldiges Hinterteil an einem Baum (Auden). In dieser Skulptur ist das Überwältigende, das Schreckliche ins Gleichgewicht gebracht durch den Umhang oder das Tuch, achtlos über einen Arm des Kreuzes geworfen und lässig hängend, fast so lang wie die hängende Figur. Es ist so belanglos wie wahrhaft in dem gleichgültigen Schauplatz des Tragischen, ob großartig oder unbedeutend.

Die Sankt Martins Geschichte erzählt, dass er an einem kalten Tag einem armen Mann begegnet und da er nichts anderes zu geben hat, teilt er seinen eigenen Mantel und reicht die Hälfte dem Mann. In dieser Komposition bemerkt man die Würde des armen Mannes. Die muskulösen Arme und Beine stehen im Einklang mit dem machtvollen Schwung des Pferdehalses, auch wenn das Tier wegsieht, aus Langeweile, Ungeduld oder auch aus Takt. Im Kontrast zu dem befähigten ermächtigten (empowered), würdigen und fordernden Bettler sieht Sankt Martin zerbrechlich aus. Ist es die zerbrechliche Zartheit des Gutseins und der Großzügigkeit in einer Welt, in welcher man diesen Tugenden nicht oft begegnet? Der Bettler liegt auf den Knien, er ist ein Bittender, wie die zum Empfang der Almosen gehöhlten Hände bewegend bezeugen, und dennoch man kann ihn nicht als unterwürfig bezeichnen noch als elend abtun. Die Kritik hat darauf hingewiesen dass, wenn man eine Linie vom Kopf des Heiligen zu dem des Bettlers zieht und dann weiter von dessen Knien zu den Hufen des Pferdes, die wesentliche Integration der Komposition klarer gemacht werden kann. Jemand, der in der glücklichen Lage ist, die wirkliche Figur zu betrachten, wird viele andere Einzelheiten bemerken, zum Beispiel, Sankt Martin, selber arm, hat keinen Sattel und er ist gegen den unteren Teil des Pferdehalses gelagert als er den Mantel herüberreicht: die größere Anstrengung ist auf Seiten des Gebenden, obwohl es der Mangel des Empfängers ist, der die Geste und das Opfer erforderlich macht.

Diese Komposition und andere ihrer Arbeiten bezeugen Bärbel DieckmannsMeisterschaft der Bewegung selbst im widerstrebensten Material. Großartige Plastik ist nicht eingefrorene Bewegung, kein plötzlicher Halt wie etwa in einer Photographie. Schon die Griechen waren von dem Phänomen der Bewegung fasziniert — wie von fast allen Lebensaspekten oder Phänomenen — und argumentierten, dass wenn ein Mensch oder Tier zwischen zwei Punkten von A nach B liefe und wenn die Zeit in immer kleinere Abschnitte unterteilt wäre, dann müsse man den kleinen Bruchteil der Zeit erreichen, wenn Mensch oder Tier nicht in Bewegung wäre: dieser Moment stellt das Statische innerhalb der Bewegung dar. Es ist dieses kleinste Fragment der Zeit, das einzufangen Bärbel Dieckmann gelingt, hierin sieht man nicht stasis sondern Bewegung — das anscheinend Stillstehende ist in Bewegung, eine Bewegung übersetzt in Stein oder Bronze. Man möchte behaupten der Eindruck des Statischen wäre Illusion und, dass die Figuren (nahezu) atmen und sich bewegen: Sankt Martin sich vorwärts lehnend, der erhobene Pferdehuf und selbst die Anspannung in den ausgestreckten Händen des Bettlers. Die Flüssigkeit und Bewegung lässt einen zögern das Wort „Tableau“ zu benutzen, da man sich darunter eine eingefrorene, erstarrte Gruppe vorstellt.

Da wir von der Bewegung in dem vermeintlich Bewegungslosen sprechen: bei einer ihrer Ausstelllungen ließ Bärbel Dieckmann junge Leute zwischen und inmitten ihrer Figuren tanzen, wie das obige Bild zeigt. Eine Geste des Selbstvertrauens, das sich als sehr berechtigt erwies, da ihre Skulpturen dadurch nicht statisch wurden: eher, dass die Tänzer eine Erweiterung der Bewegung von den Figuren Dieckmanns wurden. Die jungen Tänzer inmitten ihrer Figuren von denen einige das Alte darstellten, einige das Nichtschöne — gleichzeitig Mahnungen an das Vorübergehen der Zeit und eine freudvolle Feier des Lebens. Es ist ein frappierender Kontrast zwischen der jungen Tänzerin und dem grübelnde Monster im Hintergrund, der Kontrast zwischen dem Gelb der ersten und düstren Dunkelheit des letzteren, und auch zwischen der rauen Beschaffenheit des Monsters und der „süßen“ Glätte der Gipsreproduktionen der klassischen Figuren. Das Vergangene und das Gegenwärtige, alt und jung, Dunkelheit und Farbe, Ernst und Fröhlichkeit und Überschwang sind alle zusammen und gleichzeitig — wie in der Welt und im Leben. Für die alten Griechen war Gutsein schön und was schön war, war schön, weil es gut war. Dieses Wort abändernd, lässt Keats seine griechische Vase („Ode on a Grecian Urn“) behaupten: dass Wahrheit Schönheit ist. Bärbel Dieckmann regt an, dass Kunst Schönheit ist, nicht weil sie nur Schönes darstellt, sondern wegen ihrer Wahrhaftigkeit — und die Darstellung von Ungeheuern, von Missgebildetem, Schweren, Sperrigen ist „schön“, wegen ihrer Realitätstreue, weil die Kunst die unterschiedlich gesehenen und erfahrenen Aspekte des Lebens darzustellen sucht. Man könnte eine Parallele zu Wilfred Owens Antikriegsgedicht, „Dulce et Decorum Est“ sehen, mit der genauer Beschreibung von unter Qualen sterbenden Soldaten, das Weiße der sich verdrehenden Augen grässlich in ihren Sockeln und dem Blut „das aus den schaum-zerstörten Lungen gurgelt.“ Es ist das Grässliche dieses Gedichtes, das es „schön“ (nämlich wirksam) macht. Wir erkennen das Mut und Aufrichtigkeit zur Aussage über die Wahrheit geführt haben.

Nun wende ich mich den beiden Portraits „Xenia“ und „die Griechin“ zu. Die Terrakotta „Xenia“ ist ein in Gesicht in Geistesabwesenheit, in Gedanken. Der Mund ist sinnlich, aber untermischt mit Bitternis oder Grausamkeit. Wenn es das letztere ist, heißt es, dass Leidenschaft zusammen mit Gewalt unausweichlich zu einem Element von Grausamkeit führt? Obwohl ich weiß, das Modell ist eine Deutsche, der Name der Figur „Xenia“ („Xeno“ bedeutet fremd oder eigenartig, etwa wie in der Vorsilbe von „Xenophobie“) und der Ausdruck drücken Fremdheit und Einsamkeit aus: Menschen können sich auch Zuhause fremd fühlen. Natürlich ist auch das wieder eine subjektive Interpretation, aber schließlich ist es weder möglich noch wünschenswert das Persönliche vom Verständnis und einer Reaktion auf Kunst auszuschließen. Aus dem gleichen Grunde würde ich die Griechin als „Weise“ bezeichnen. Es ist gesagt worden, das „Unschuld“ („innocence“) sei nur ein anderes Wort für Unwissenheit („ignorance“), aber es gibt eine weitere Unschuld, eine, die jenseits von Erfahrung und Kenntnis liegt: die Weisheit dieses Gesichtes ist keine oberflächliche, sondern eine erkämpfte, eine, die nicht durch das Leben, sondern trotz des Lebens und der Erfahrung erreicht wurde.

Die letzte der ausgewählten Skulpturen hat den Titel „die Badende“, aber die Künstlerin hat auch einen anderen Titel vorgeschlagen: „Sich sonnende Frau (nach dem Bade)“. Es nimmt uns zurück zum ersten Bild und stellt eine Wiederholung von einigen der Zügen
von Dieckmanns Werken, die ich kommentiert habe.

Zum Beispiel die konvexe Figur in einem flüchtigen Moment, fast linkisch in ihrer Natürlichkeit. Während der Körper sich der Freude von Bad und Sonnenlicht hingibt, liest man auf dem Gesicht nach innen gekehrte Gedanken. Die Bildenden Künste machen uns zu Voyeuren: bewundernd treten wir in einen intimen Raum, wir dringen in Privates ein, das beides körperlich und nicht-körperlich ist. Das schon erwähnte Gedicht von Keats (‘Ode on a Grecian Urn’) besagt, dass inmitten von Flüchtigem und Wandel Kunstwerke zuverlässig und bleibend sind. Kunst ist ein Freund des Menschen: Sie bringt uns Freude und Trost (im Sinne von „Stärkung“). Bärbel Dieckmanns Werk ist eine weitere Bestätigung dieser Wahrheit.

Charles Sarvan
Berlin